13
„Also, wie fühlt es sich denn an, wenn man das Blut von jemandem trinkt?“, erkundigte sich Roxy.
Christian blickte in den Rückspiegel und warf mir einen dermaßen jämmerlichen Blick zu, dass ich unweigerlich lachen musste. Es war an diesem Abend das erste Mal, dass ich lachte, und es fühlte sich ein wenig steif und unsicher an in seiner Gegenwart, aber ich war stolz auf mich, dass ich überhaupt mit einem Mann gemeinsam lachen konnte, von dem ich eben erst erfahren hatte, dass man seine Lebensspanne eher in Jahrhunderten als nach Jahrzehnten zählen konnte.
„Bleiben auch manchmal Blutklümpchen in deinen Zähnen stecken? Was ist, wenn jemand unter Blutarmut leidet? Bist du dann eine Stunde später schon wieder hungrig? Bist du jemals gebissen worden? Wenn du kein Blut mehr hast, verschrumpelst du dann wie so eine alte Apfelsine?“
„Roxy!“
„Okay, hier ist eine einfache Frage: Wie kommt es, dass du essen und trinken kannst, obwohl andere Dunkle es nicht können?“
„Wie kommst du darauf, dass ich es kann?“, fragte Christian, die Augen auf die dunkle Straße vor uns gerichtet. „Wir haben dich dabei gesehen!“ Er warf ihr einen Blick zu.
„Im Hotel“, fügte Roxy hinzu. „Du hast zusammen mit uns zu Abend gegessen, weißt du nicht mehr?
Und davor warst du in der Schänke. Da haben wir gesehen, wie du getrunken hast ... oder etwa nicht?“
Unsere Blicke trafen sich im Spiegel.
„Bei deiner Fingerfertigkeit solltest eigentlich du derjenige sein, der als Magier auftritt, und nicht Dominic“, sagte ich.
Er lächelte.
Roxy kapierte endlich. „Also, das ist wirklich nicht fair! Wenn ich geahnt hätte, dass du bloß eine Show abziehst, hätte ich gleich gewusst, wer du bist. Okay, dann also zur nächsten Frage ...“
„Ich habe nicht die leiseste Ahnung, ob du tatsächlich über so nützliche Fähigkeiten wie Bewusstseinskontrolle verfügst, wie die Helden in deinen Büchern, Christian, aber wenn dem so ist, dann wüsste ich es wirklich zu schätzen, wenn du Roxy jetzt den mentalen Befehl gibst, endlich die Klappe zu halten.“
Er lachte.
„Kann ich was dafür, dass ich so viele Fragen habe?“, fragte Roxy mit einem wütenden Blick. „Das ist eine einmalige Gelegenheit und die werde ich bestimmt nicht ungenutzt verstreichen lassen. Außerdem durftest du schon alle deine Fragen stellen, als wir das Schloss besichtigt haben, jetzt bin ich mal dran.“
„Fragen über die Herkunft der Galerie der Verschwörer sind ja wohl nicht ganz so unverschämt, wie jemanden zu fragen, was er sich so aus den Zähnen pult. Hör endlich auf, so unhöflich zu sein.“
„Du hast doch nichts dagegen, wenn ich dir ein paar persönliche Fragen stelle, oder?“, fragte sie Christian.
Er warf ihr einen Blick zu, der eindeutig „Doch, habe ich!“ besagte, aber sie ignorierte ihn. „Siehst du?
Es macht ihm überhaupt nichts aus. Also, wie ist das denn nun mit der ewigen Verdammnis...“
„Um Gottes willen, Roxy, lass ihn endlich in Ruhe!“
Sie drehte sich in ihrem Sitz um und warf mir einen weiteren wütenden Blick zu. Dann setzte sie sich wieder zurück und blickte schmollend aus dem Fenster. Weder der Blick noch das Schmollen vermochten mich sonderlich zu beeindrucken. Ich beobachtete Christians Hinterkopf, als wir die wenigen Kilometer zum Hotel zurückfuhren. Es war schwierig, den freundlichen, amüsanten Christian, den ich lieb gewonnen hatte, mit dem gequälten Unsterblichen in Einklang zu bringen, der mich als seine einzige Möglichkeit zur Rettung betrachtete.
Und ich fühlte mich schuldiger als je zuvor.
Ich lehnte mich in dem weichen Ledersitz zurück, schloss die Augen und dachte an die Male zurück, als seine Gedanken meine berührt hatten. Ich versuchte, meine bisherige Vorstellung von ihm mit dem emotionalen Bild, das seine Gedanken in mir hinterlassen hatten, in Einklang zu bringen. Er war es, den ich an jenem ersten Abend gespürt hatte, wie er sich der Schänke näherte. Sein Hunger hatte mich erfüllt, als er sich herunterbeugte, um meine Hand zu küssen, nicht Raphaels, der dabeistand und uns nur beobachtete. Es war sein verzweifeltes Verlangen, das mich in der Nacht in Angst und Schrecken versetzt hatte, als Raphael in mein Zimmer kam.
Und es war sein wortloser Schrei der Angst, der durch die Nacht gehallt war, als ich mich Raphael hingegeben hatte. Christian irrte sich, was mich betraf. Das wusste ich. Aber wie sollte ich ihm das begreiflich machen?
Ich versuchte, mich entspannt im Sitz zurückzulehnen und meinen Geist von allem zu befreien, bis auf das, was ich vorhatte. Dabei hielt ich mich daran, was Miranda mir über das Meditieren beigebracht hatte. Zögernd versuchte ich meine Gedanken in die Welt hinauszuschicken, tastete mich behutsam vor.
Christian?
Er war auf der Stelle präsent, seine Gedanken warm und beruhigend. Das wären sie jedenfalls gewesen, wenn es mich nicht eher beunruhigt hätte, mit welcher Leichtigkeit er in meinen Kopf eindrang. Geliebte? Rufst du nach mir?
Oh nein! Was hatte ich jetzt schon wieder angestellt?! Angeblich war seine zukünftige Gefährtin doch die Einzige, die sich mental mit ihm verständigen konnte. Meine Gedanken rasten, als ich verzweifelt überlegte, was ich in Christians Büchern über die gedankliche Kommunikation zwischen einer Gefährtin und ihrem Dunklen gelesen hatte. Ich meinte mich daran erinnern zu können, dass er sich auf diese Weise auch mit anderen verständigen konnte, aber was war, wenn ich damit falschlag?
Dann saß ich wirklich in der Klemme. Ich widerstand der Versuchung nachzuprüfen, ob er mich im Spiegel ansah, und beschloss, dass jegliche gedankliche Kommunikation mit Christian ab sofort strengstens verboten war.
„Tut mir leid, ich wollte dich nicht stören. Ich wollte nur, dass du weißt, wie elend ich mich deswegen fühle, wie sich die Dinge zwischen uns entwickelt haben. Ich weiß, dass du mir noch nicht glaubst, aber ich werde es dir irgendwie beweisen, dass ich nicht diejenige bin, die dich retten kann. Oder noch besser, ich verspreche dir, dass ich dir dabei helfen werde, die Richtige zu finden. Ich will nicht, dass du noch länger leidest, Christian, ganz bestimmt nicht.“
Seine Augen im Rückspiegel glitzerten düster. „Dieses Thema sollten wir vielleicht besser ein anderes Mal besprechen.“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, du musst dir wegen Roxy keine Sorgen machen, sie wird niemandem ein Sterbenswörtchen verraten. Ich habe ihr erzählt, was in deinem Verlies passiert ist, und sie versteht es.“
Er warf Roxy einen Blick zu. Sie lächelte ihn bloß an.
„Nicht dass ich noch viel zu erzählen hätte. Ich glaube, ich hab eigentlich schon so ziemlich alles gesagt.“
„Ich hingegen habe noch lange nicht alles gesagt“, entgegnete er ruhig und wandte seine Augen wieder der Straße zu.
Es half schon ein wenig, seinen Hinterkopf wütend anzustarren. Ebenso wie ihn in Gedanken mit jedem mir bekannten Synonym der Begriffe verbohrt und stur zu beschimpfen. Ein Weilchen zumindest. Als er uns am Hotel absetzte, hatte ich mich innerlich fast schon an den Gedanken gewöhnt, dass ich meine Anstrengungen verdoppeln musste, damit er akzeptierte, dass ich nicht diejenige war, für die er mich hielt.
„Sollen wir uns jetzt in die Menschenmassen stürzen?“, erkundigte sich Roxy, als wir auf dem Parkplatz vor dem Hotel standen und die Wiese betrachteten, die sich unter uns erstreckte.
„Musst du da noch fragen?“ Ich drehte mich um und lächelte Christian an.
„Du kannst dich uns gerne anschließen, wenn du sonst nichts vorhast. Das heißt, wenn es dir nichts ausmacht, dich inmitten all dieser Menschen aufzuhalten. Ich meine, wenn wir dir nicht lästig sind. All diese Leute ... um dich herum ...“ Der wissende Blick, den er mir zuwarf, verschlug mir die Sprache.
Meine Wangen brannten vor Scham über das, was ich nicht in Worte fassen konnte.
„Sie meint, ob du schon genug Blut getrunken hast“, zwitscherte Roxy. „Ich nehme nicht an, dass ich mal dabei zuschauen ... „ Sein Blick richtete sich auf sie.
„Nein, du hast recht, das ist keine gute Idee.“
„Wenn ihr gestattet, dann werde ich euch später auf dem Markt treffen.“
„Na klar doch“, sagte ich fröhlich, in dem Bemühen, den Gedanken zu verdrängen, dass er sich jetzt auf die Suche nach einem nichts ahnenden Opfer machen würde, um darüber herzufallen. „Später. Wir sind auf jeden Fall da.
Irgendwo.“
„Bon appetit“, sagte Roxy.
Ich schnappte mir ihren Arm und zog sie den grasbewachsenen Hügel hinunter in Richtung Markt.
„Um Gottes willen, Roxy, du kannst doch einem Vampir nicht bon appetit! wünschen! Das ist echt so was von taktlos!“
„Warum?“, erkundigte sie sich und stolperte über einen Erdklumpen. „Ich möchte doch nur, dass er eine gute Mahlzeit einnimmt. Was ist denn, wenn er sich jemanden aus einem schlechten Jahrgang aussucht? Oder jemanden mit einer Blutkrankheit? Du magst ja keine Pläne mit ihm für später machen, aber ich schon, und ich möchte, dass er dann guter Laune ist. Ich will nämlich alles hören, was bisher noch nicht in seinen Büchern steht, alle dreckigen Einzelheiten über die Dunklen. Und er hat mir versprochen, dass ich das nächste Mal mit den Daumenschrauben in der Folterkammer hier auf dem Markt dran bin.“
Ich warf einen Blick über die Schulter zurück, als wir am Fuß des Hügels angekommen waren. Christian war immer noch als Silhouette gegen das Licht, das aus dem Hotel fiel, zu erkennen. Der Wind ließ den langen Mantel um seine Beine flattern, während er einfach nur bewegungslos dastand und uns nachsah.
„Raphael kann heute für mich gar nicht früh genug mit seiner Arbeit aufhören. Ich hoffe nur, dass nicht wieder irgendetwas schiefgeht“, murmelte ich leise vor mich hin.
Doch Roxy hatte mich gehört. „Was soll denn heute Abend schiefgehen? Du wirst dich heute von den Runensteinen fernhalten, also sollte die Welt eigentlich vor den Unglücken, Katastrophen und Naturgewalten sicher sein, die auf deine Sitzungen für gewöhnlich folgen.“
Es gibt Zeiten, zu denen Roxy alles andere als vorausschauend ist.
Ich fand Raphael bei einem der zwei Zelte, in denen abgepacktes Essen und warme Getränke serviert wurden. Obwohl der Markt keine Lizenz für den Ausschank von Alkohol hatte, brachten viele Gäste ihre eigenen Vorräte mit.
Da sich nun immer mehr Menschen in Erwartung des großen Festivals in ein paar Tagen hier versammelten, hatte Raphael besonders viel zu tun. Er musste diejenigen herausfischen, die sich nicht mäßigen konnten und Ärger machten.
Gerade begleitete er zwei Frauen und einen großen, dünnen jungen Mann vom Platz und erklärte ihnen, sie könnten später wiederkommen, wenn sie nüchtern waren.
„Wenn ich sehe, wie unsicher sie auf den Beinen sind -ganz abgesehen von den Liedfetzen, mit denen sie gegen deine Handlungsweise protestiert haben - würde ich wetten, dass sie sich jetzt erst mal so richtig ausschlafen, statt gleich wiederzukommen.“
„So ist es auch gedacht.“ Raphael lächelte, als er sich zu mir umdrehte. Um seinen Mund herum waren Falten der Anspannung sichtbar und seine schönen Augen blickten besorgt und abgelenkt drein. Also verwarf ich meine Pläne, ihn zu einem wahren Rausch wollüstiger Gedanken anzutreiben, und versuchte stattdessen lieber, sein Stirnrunzeln wegzustreichein.
„Läuft es nicht so gut heute Abend?“
„Nicht schlimmer, als wir erwartet hatten.“ Er ergriff meine Hand und küsste meine Handfläche.
„Und wie war dein Abend mit Dante?“
Ich verdrängte rasch die grauenhafte Erinnerung an Christians Höllenqualen, die sofort wieder in mir aufstieg. „Es ging so. Ich erzähl dir später davon.“
Viel später. Sagen wir mal, fünf bis sechs Jahre später.
Aus dem Funkgerät, das er am Gürtel trug, kam Rauschen und ein Schwall vollkommen unverständlicher Wortfetzen. Er schien es allerdings zu verstehen, denn er bellte einen Befehl in sein Funkgerät und hielt mich kurz fest, bevor er sich eiligst auf den Weg zurück zum eigentlichen Marktgelände machte.
„Hier, nimm das.“ Er zog den Schlüssel zu seinem Wohnwagen aus der Tasche und drückte ihn mir in die Hand. „Ich komme so bald wie möglich zu dir, wenn wir hier zumachen. Rico braucht dringend Hilfe bei einer Schlägerei in der Nähe vom Hauptzelt. Also halt dich besser davon fern, bis wir für Ordnung gesorgt haben.“
„Kein Problem. Mach dir um mich keine Sorgen. Ich werd mal nach Arielle sehen und fragen, wie es ihr geht.“
Er lief in Richtung großes Zelt, überlegte es sich dann doch anders und kehrte zurück, um mich an sich zu ziehen und mir einen raschen, harten Kuss zu geben. „Hab ich dir eigentlich schon gesagt, wie schön du heute aussiehst?“, raunte er mir zu.
„Nein, aber ich bin bereit, mir später deine Entschuldigungen ob dieser ungeheuerlichen Nachlässigkeit anzuhören.“ Ich zwickte ihn ins Kinn und fühlte, wie ein warmes Glücksgefühl in mir aufstieg, angesichts des begehrlichen Blicks, den er mir noch schenkte, bevor er sich endgültig auf den Weg zum Hauptzelt machte.
„Sei vorsichtig!“, musste ich ihm natürlich noch unbedingt hinterherrufen.
Er hob dankend die Hand und bahnte sich seinen Weg durch die immer dichter werdende Menschenmenge.
Arielle war mit ihrem Latein am Ende.
„Joy!“, rief sie aus, als ich mich ihrem Zelt näherte.
Es freute mich, die lange Warteschlange von Menschen zu sehen, die sich von ihr aus der Hand lesen lassen wollten. Sie stand auf, entschuldigte sich kurz bei ihrem verdatterten Kunden, rannte auf mich zu und als sie mich erreichte, griff sie nach meinen Händen. „Oh Joy, ich bin so froh, dich zu sehen. Ich habe schon Roxy geschickt, um dich zu suchen. Bitte, du musst mir helfen. Ich bin in einer wirklich verzweifelten Situation.“
Ich lächelte und drückte ihre Hände kurz. „Natürlich werde ich dir helfen. Was kann ich denn tun?“
Sie zog mich in ihre Bude, wo die Menschen in der Schlange - die genau wie die Besucherzahl des Marktes beständig wuchs - langsam die Geduld zu verlieren schienen. „Tanya will nicht arbeiten. Sie ist vor einiger Zeit zurückgekommen und hat sich geweigert, Dominics Anordnung zu befolgen und die Karten zu legen.“
Ich ahnte schon, worauf das hinauslaufen würde.
„Ich freue mich, dass sie heil und gesund wieder zurück ist, und es tut mir leid, dass sie keine Karten legen will, aber ich fürchte, ich kann dir da nicht helfen. Ich habe nicht die leiseste Ahnung vom Tarot und ... „
„Nein, nein.“ Sie schüttelte energisch den Kopf und zerrte mich weiter an den wartenden Menschen vorbei. „Es ist schon alles vorbereitet. Ich werde die Karten legen und Renée - sie ist Bastians Frau, du kennst sie doch, die Schwangere -, sie wird aus den Händen lesen, aber dafür musst du die Runen übernehmen, denn Renée ist eine bohémienne, eine Zigeunerin, verstehst du, und sie hat kein Gefühl für Runen in sich. Du wirst die Runen mit größtem Erfolg legen und ich werde dir sehr dankbar sein.“
„Aber, aber ...“
„Es ist schon alles vorbereitet“, wiederholte Arielle und drückte mich auf ihren Stuhl. „Ich werde jetzt zu Tanyas Stand gehen und die Tarotkarten legen.
Renée benutzt das Teezelt für das Lesen aus der Hand. Du nimmst für eine Deutung mit drei Steinen 150 Kronen oder fünf Euro. Das Trinkgeld darfst du natürlich behalten. Hier sind deine Steine, Roxy hat sie aus deinem Zimmer geholt. Hast du jetzt alles? Ja? Sehr schön!“
Arielle klatschte in die Hände und rief mit lauter Stimme über den Lärm der Menschen hinweg, dass eine hervorragende Runendeuterin um die halbe Welt gereist sei, um ihnen zu weissagen.
Niemand wirkte bei dieser Mitteilung oder angesichts meiner Erscheinung in verwaschenen Jeans und einem Strickpulli sonderlich beeindruckt, aber es regte sich auch kein Widerspruch, also schnappte ich mir den Beutel mit meinen Steinen und lächelte der Frau auf dem Stuhl mir gegenüber zu.
„Denken Sie jetzt bitte an eine Frage, die Sie beantwortet haben wollen“, sagte ich auf Deutsch zu ihr.
Im Stillen betete ich, dass die Menschen in der Schlange es bald leid wären zu warten und sich auf den Weg zu einem anderen Stand machen würden.
Drei Stunden und fünfundzwanzig Minuten später wünschte ich einem jungen tschechischen Paar eine gute Nacht, während ich die letzten paar Münzen in Arielles Geldkassette fallen ließ. Das Geld aus der Trinkgeldschale schüttete ich in einen Stoffbeutel, von dem ich annahm, dass er ebendiesem Zweck diente, und stopfte auch den in die Kassette. Dann stand ich auf und streckte meinen erschöpften Körper. Neben dem beständigen Strom von Menschen, für die ich die Runen deuten sollte, hatte ich auch noch einige andere Besucher gehabt. Dominic kam dramatisch hereingerauscht und schenkte mir eines seiner verführerischen Lächeln, während er mir für meine Hilfe dankte. Ich akzeptierte seinen Dank, ignorierte die lüsternen Blicke und riet ihm mit leiser Stimme, er möge seine Show lieber woanders abziehen, wenn er nicht wollte, dass ich auf der Stelle aufstand und verschwand. Er warf einen Blick auf die wartenden Menschen, löste mit etwas Mühe meine Hand vom Tisch, an den ich mich geklammert hatte, und beugte sich mit viel Aufhebens darüber, um mein Handgelenk zu küssen. Dabei vergewisserte er sich, dass auch ja alle mitbekamen, wie er sich über seine Fangzähne leckte.
„Schmierenkomödiant“, knurrte ich.
„Mon ange!‘ schmalzte er.
Raphael war ein weitaus willkommenerer Besucher; doch obwohl er insgesamt dreimal bei mir vorbeischaute, wirkte er abgelenkt und fragte nur kurz, ob alles in Ordnung sei. Roxy und Christian winkten mir zweimal zu, als sie auf ihrer Runde vorbeikamen. Beim zweiten Mal blieben sie kurz stehen und überreichten mir eine Flasche Wasser und eine große Brezel.
Sogar Milos stattete mir einen Besuch ab. Einmal, um seiner Wertschätzung für meine Hilfe Ausdruck zu verleihen - mit derart leiser Stimme, dass ich ihn beinahe gar nicht verstanden hätte -, und das zweite Mal, um die völlig überfüllte Geldkassette zu leeren.
Als ich endlich die letzte Rune für den letzten Kunden gedeutet hatte, tat mir alles weh und ich war vollkommen erschöpft, nachdem ich für mehr als fünfzig Menschen orakelt hatte. Ich zog Raphaels Schlüssel hervor und hatte eigentlich vor, bei ihm zu übernachten.
Aber die Verlockung eines langen heißen Bades in der Wanne in unserem Hotel war zu stark für mich und meinen schmerzenden Körper.
Also schleppte ich mich ächzend zu dem Stand, an dem Arielle immer noch damit beschäftigt war, Karten zu legen. „Ich hab alle durch und mach jetzt Schluss. Hast du Roxy gesehen?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Ist auch egal. Und Raphael?“
„Er war vor ein paar Minuten hier. Er sagte, er muss sich um ein Problem kümmern, das jemand gemeldet hat, aber er würde gleich danach wiederkommen.“
„Ah. Also, wenn du ihn siehst, kannst du ihm dann bitte ausrichten, dass ich nur schnell ein Bad nehme und dann wieder herkomme?“
Sie nickte. Ihre Augen strahlten mich dankbar an.
Ich ließ die Kassette bei ihr und tat es erneut den Lachsen gleich, die zum Laichen gegen den Strom schwimmen müssen, bis ich endlich den Rand des Marktgeländes erreichte.
Der Lärm, der hinter mir ausbrach, kündete die erste Band an, was auch erklärte, warum die meisten Menschen jetzt in die mir entgegengesetzte Richtung strömten. Ich ging den üblichen Anzeichen dafür, dass sich hier Menschen amüsiert hatten, aus dem Weg - einer Pfütze Erbrochenem, leeren Weinflaschen, weggeworfenen Kondompackungen und diversem anderen Müll, der über das zertretene Gras geweht wurde - und entfernte mich immer weiter von dem Krach und den Lichtern auf die relative Ruhe am Rand zu.
Kurz bevor ich meinen üblichen Weg an der Zeltstadt vorbei einschlagen wollte, blieb ich stehen, als vor mir plötzlich lautstark ein Lied angestimmt wurde. Acht oder neun Leute tanzten in mehr oder weniger bekleidetem Zustand um ein brennendes Fass herum, offensichtlich Mitglieder der angeheiterten Gruppe, die Raphael vor ein paar Stunden hinausbegleitet hatte. Da ich keinesfalls ihre Aufmerksamkeit auf mich lenken wollte, bog ich scharf links ab und erklomm keuchend und schnaufend einen steilen Hügel, wobei ein dichter Teppich aus Kiefernnadeln den Weg ziemlich rutschig machte.
Schließlich stand ich in einem kleinen Tannenhain am anderen Ende des Hotelareals. Es war ein dunkler, enger Bereich, in dem es himmlisch duftete, aber aufgrund seiner isolierten Lage bekam ich eine Gänsehaut. Nach der Erfahrung in Christians Kerker sehnte ich mich nach der Sicherheit von Menschen und Lichtern um mich herum.
Als ich gerade eine große Tanne umrunden wollte, blieb ich wie erstarrt stehen. Vor mir kauerte jemand zwischen zwei Bäumen am Rand des Wäldchens.
Vermutlich nur ein einsamer, betrunkener Grufti, der den billigen Wein, den er literweise in sich hineingeschüttet hatte, nun wieder von sich gab, sagte ich zu mir selbst. Aber als ich versuchte, mir heimlich, still und leise einen Weg an ihm vorbei zu bahnen, konnte ich deutlich sehen, dass es kein Grufti war, dass er nichts von sich gab, und einsam war er auch nicht.
Die Gestalt, die sich gegen das Licht aus dem vor uns liegenden Hotel abzeichnete, war groß, kräftig gebaut und kam mir extrem bekannt vor. Doch das, wovon ich den Blick nicht abwenden konnte, und was mich davon abhielt, in entzücktes Rufen auszubrechen, war die Person zu seinen Füßen.
Selbst in der fast vollkommenen Dunkelheit erkannte ich das leuchtend rote Haar, das ihren Kopf wie eine Blutlache umgab.
Wenn Raphael Mund-zu-Mund-Beatmung versucht hätte oder ihr ein paar Klapse zum Aufwecken gegeben oder auch nur mit ihr geredet hätte, wäre ich auf der Stelle zu ihm gerannt, um ihm zu helfen.
Aber die Lautlosigkeit, mit der er sich bewegte, die sparsamen und zugleich effizienten Bewegungen, mit denen er Tanya durchsuchte, sorgten dafür, dass ich stocksteif hinter dem Baum stehen blieb, der mich zumindest teilweise vor seinem Blick verbarg.
Raphael hob etwas vom Boden neben Tanya auf, musterte es einen Moment und steckte es in seine Tasche. Dann blickte er in die Nacht hinaus, sein Kopf drehte sich langsam, als ob er die Gegend absuchte. Ich duckte mich hinter den Baum, mein Herz klopfte wie verrückt. Ich war nicht sicher, warum ich mich überhaupt vor ihm versteckte, aber dennoch tat ich es. Als ich einen Augenblick später wieder hinsah, war er weg. Tanya jedoch nicht.
„Bitte mach, dass sie nur schläft. Oder bewusstlos ist. Oder sich tot stellt. Oder sich mit Drogen zugeknallt hat. Bitte, bitte, bitte lass nicht zu, dass sie ... „
Ich konnte mich nicht überwinden, das Wort auszusprechen, was ziemlich dumm war, denn ich wusste in diesem Moment nur zu gut, dass sie tot war. Raphaels Körpersprache schrie es in die Welt hinaus, Tanyas unbewegt daliegender Körper schrie es in die Welt hinaus und jedes einzelne Haar auf meinem Kopf, das mir in dem Augenblick zu Berge stand, als ich ihn dabei beobachtete, wie er sie durchsucht hatte, schrie es in die Welt hinaus.
Sie war tot. Sie lag auf der Seite, zu einer Kugel zusammengerollt, und ruhte auf einer Matratze aus Tannennadeln; ihr Haar umfloss sie wie ein roter Heiligenschein. Ihre Augen waren geschlossen. Ich sah keinerlei Anzeichen dafür, dass sie atmete, aber ich sollte das wohl besser überprüfen, um sicherzugehen, dass sie nicht nur schwer verwundet war.
Als ich mich vorbeugte, um einen Blick auf Tanya zu werfen, fühlte ich ein warnendes Kitzeln in meiner Nase.
Ich zuckte zurück und zog gleichzeitig ein ganzes Bündel Papiertaschentücher aus meiner Tasche. Ein paar Sekunden später hockte ich da und betete, dass es kein schlechtes Karma verursachte, auf einen möglicherweise toten Menschen zu niesen. Sie sah jedenfalls ziemlich tot aus. Ich schluckte, als sich in meiner Kehle ein Kloß des Widerwillens bildete, bevor ich endlich eine Hand ausstreckte, die stärker zitterte, als ich zuzugeben bereit war, den Kragen ihrer Jacke zurückschob und eine Fingerspitze an ihr Kinn legte. Es fühlte sich ziemlich warm an.
„Der Puls, du Blödi. Am Kinn kannst du nun wirklich gar nichts erkennen. Du musst den Puls überprüfen“, ermahnte ich mich selbst. Ich beugte mich über sie und bewegte ihren Kopf behutsam zur Seite, damit ich ihren Puls finden konnte.
Meine Hand erstarrte.
Ein Schrei durchschnitt die schwere Nachtluft und erschreckte die Vögel, die rund um mich herum auf den Bäumen schliefen. Ich ignorierte den Schrei, außerstande, den Blick von dem grauenhaften Anblick abzuwenden, außerstande zu glauben, dass ich tatsächlich sah, was vor mir lag. Ein entfernter Teil meines Verstandes wünschte sich, dass wer auch immer da schrie endlich den Mund halten sollte, damit ich in Ruhe nachdenken konnte, aber der Rest meines Verstandes, der Teil, der auf Tanyas Hals starrte, war zu fassungslos, um überhaupt irgendetwas zu denken.
Eine dunkle Gestalt stürzte aus der Finsternis und packte mich, schleuderte mich gegen eine Mauer aus Wärme und Trost und brachte den Schreihals gnädigerweise zum Schweigen.
„Schhhh, Baby. Ist ja alles gut, ich bin ja hier.“
Ich schmiegte mich zitternd in die Wärme, die da zu mir sprach, und klammerte und presste mich verzweifelt an Raphael, in dem Versuch, den Horror hinter mir zu verdrängen. „Es ist Tanya“, schluchzte ich.
„Ich weiß, Baby.“
„Sie ist tot.“
„Ich weiß.“
Der furchtbare Anblick ihres aufgerissenen Halses, ihrer blutleeren Adern, erfüllte meine Gedanken vollständig. Ich versuchte, mich noch fester an Raphael zu drängen. „Ich weiß, wer sie umgebracht hat“, flüsterte ich.
Seine Arme umschlossen mich noch fester, als er seine Lippen gegen meine Schläfe drückte. „Ich auch, Baby. Ich auch.“